Ob wuseliger Versammlungsort oder großzügiger Freiraum, ob repräsentative »gute Stube« oder betriebsamer Markt – Plätze sind gleichermaßen öffentliche Treffpunkte und Visitenkarten ihrer Umgebung. Auch unser Wedding hat ganz vielfältige Plätze zu bieten. An manchen steppt sprichwörtlich der Bär, an anderen sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht.
Im Rahmen dieser kleinen Serie werden wir einen Platz nach dem anderen vorstellen. Wetten, dass auch Sie noch nicht alle davon kennen?
Heute wird‘s tierisch ‒ oder vielleicht doch nicht? Wir reisen die Afrikanische Straße nordwärts. Die Straße bildet eine Art Grenze: rechterhand die verdichtete Stadt, der steinerne Wedding, mit Wohnblöcken und -zeilen, gegenüber hingegen lockere Bebauung und Grünflächen. Hier liegt links mit dem Volkspark Rehberge das größte zusammenhängende Frei- und Erholungsgebiet des Weddings.
Wir erreichen schließlich den Nachtigalplatz, ein Carré von 110 auf 150 Metern, das allseitig von gleichförmigen Viergeschossern mit Walmdach eingefasst ist. Auf den Platz Bezug nehmen die Petersallee, die das Rechteck mittig an der Schmalseite durchschneidet, und die Togostraße, die dasselbe an der Längsseite tut. Für geometrische Abwechslung in dieser sonst allzu eintönigen Anlage sorgt die Afrikanische Straße, die den Nachtigalplatz beinah-diagonal zerteilt.
Das umliegende Areal ist unter dem Namen Friedrich-Ebert-Siedlung bekannt. Dieses Wohnungsbauprojekt entstand von 1929 bis 1939 unter der Federführung der Architekten und Stadtplaner Paul Emmerich und Paul Mebes. Hierbei verfolgten sie seinerzeit, in der Weimarer Republik, mehrere Ziele. Im Vordergrund stand die Schaffung einer größeren Menge Wohnraums. Zehn Jahre nach dem Weltkrieg und mit der beginnenden Weltwirtschaftskrise zogen unvermindert Menschen nach Berlin. Gleichzeitig waren der Metropole, die erst seit 1920 als Groß-Berlin in den noch heute weitgehend unveränderten Grenzen bestand, wirtschaftlich enge Grenzen gesetzt. Eine relativ hohe Wohn- bzw. Nutzdichte der Siedlung war daher das in Kauf zu nehmende Übel.
Nichtsdestoweniger strebten die Planer nach sozialen und hygienischen Vorzügen. Das vorherrschende Prinzip des hoch verdichteten Mietskasernenblocks galt den ambitionierten Architekten als überholt und unwohnlich, licht- und luftarm, überbevölkert ‒ kurz: menschenunwürdig. Statt dessen schufen sie Wohnzeilen mit Flachdach und typisierten Wohnungen. Die Zeilenbauweise bot den Bewohnern bis dahin unbekannte Annehmlichkeiten: in der Wohnung Sonnenlicht und Luft sowie Sanitärräume; zwischen den Wohnriegeln Rasen, Blumen und Bäume. Ganz wesentlich war in sozialer Hinsicht die Aufhebung der Klassenunterschiede zwischen privilegierten Vorderhausbewohnern und benachteiligten Hinterhaus(-hof-)mietern, denn irgendwann am Tag hatte jeder mal direktes Sonnenlicht. Zugleich sorgte die Beschränkung auf höchstens vier Wohnungen pro Etage (bei vier Geschossen also 16 Mietparteien) für mehr Nachbarschaftlichkeit und weniger Anonymität.
Wer aufmerksam um sich schaut, wird bemerken, dass nicht die komplette Siedlung nach den beschriebenen Prinzipien umgesetzt wurde. Vereinzelt findet sich ein Straßenzug in althergebrachter Blockrandbebauung mit traditionellem Satteldach. Seit die Nationalsozialisten an der Macht waren und sie auch freiwillig nicht mehr hergaben, wurden manche gestalterischen und sozialen Errungenschaften im laufenden Planungs- und Bauprozess einkassiert und auf eine vermeintlich heimatlichere Formensprache zurückgegriffen. Der Nachtigalplatz selbst zeugt von dieser gestalterischen Kehrtwende.
Wie schon beim Pekinger Platz finden wir hier, im Afrikanischen Viertel, die Straßen nach ehemaligen Kolonialbesitzungen benannt. Mittenmang finden sich die Namen Lüderitz, Peters und Nachtigal. Nachtigal mit einem L. Also doch nichts Tierisches…
Adolf Lüderitz (1834‒1886) war ein Bremer Großkaufmann, der ab 1883 für das Deutsche Reich Anspruch auf das bis dahin nicht kolonisierte Südwestafrika erhob. Bei den Landerwerbungen haute er die Vorbesitzer regelmäßig übers Ohr, indem er die Längenangaben in den Verträgen in Meilen angab, aber nach Vertragsschluss auf deutschen Meilen je 7500 Metern bestand im Gegensatz zu den dort bekannten englischen Meilen à 1609 Metern. Die Käufe gingen als Meilenschwindel in die Geschichte ein und Lüderitz bekam den Spottnamen Lügenfritz verpasst. Trotz allem sind noch heute eine Bucht und die dort gelegene namibische Stadt nach ihm benannt.
Carl Peters (1856‒1918) war hannoveranischer Publizist und Politiker. 1884 gründete er die Gesellschaft für deutsche Kolonisation mit und kaufte in deren Auftrag in Ostafrika Land. Eine Vielzahl verschiedener ansässiger, teils konkurrierender Völker wurden von Peters unter Vertrag genommen. In auf deutsch verfassten ‒ und vermutlich nur unzureichend erklärten und verstandenen ‒ Verträgen sagte er militärische Unterstützung gegen die Nachbarstämme zu. Als Gegenleistung erschlich er sich weitreichende Rechte zum Erheben von Steuern, Zöllen und zur Durchsetzung kolonial-deutscher Justiz. Nachdem selbst die Reichsregierung derartiges Geschäftsgebaren nicht gutheißen konnte, wurde Peters 1897 unehrenhaft aus dem Reichsdienst entlassen. Da er darüber hinaus Ansichten in Bezug auf die Afrikaner vertrat, die aus heutiger Sicht nicht anders als rassistisch bezeichnet werden können, äußerte sich Widerstand gegen die Benennung der Petersallee. Dies führte 1986 zur amtlichen Umbenennung. Seither heißt sie … Petersallee. Benannt nicht mehr nach dem bösen Carl, sondern fürderhin nach dem guten Hans, der als Rechtswissenschaftler im Widerstand gegen die Nazis kämpfte. Diese nicht mal halbherzige Umbenennung war kostengünstig (es mussten ja keine Adressen geändert werden) und dennoch teuer: dieser Etikettenschwindel, gerade weil er kaum auffällt, entwertet das Leben und Wirken des Widerstandskämpfers Hans Peters.
Der dritte und letzte Protagonist deutscher Kolonialaktivitäten, der namentlich im Afrikanischen Viertel verewigt ist, hieß Gustav Nachtigal (1834‒1885). Der Mediziner kam zunächst als Feldarzt nach Nordafrika. Neben militärärztlichen Aufgaben knüpfte er als Leibarzt des Beys von Tunis vielfältige Kontakte und lernte unter anderem auch arabisch. Er unternahm Reisen und Expeditionen ins bis dahin wenig erforschte Innere des Kontinents, durch die Sahara, den Sudan. Er dokumentierte Völker, deren Gebräuche und Sprachen. Später wirkte er in Westafrika als Reichskommissar aktiv bei der Verwaltung der deutschen Kolonien mit. Seinen Tagebüchern ist zu entnehmen, dass er diese Aufgabe und seine Rolle im Kolonialismus zwiespältig sah. Einerseits missfiel ihm die Haltung Europas gegenüber den Afrikanern und die daraus resultierende Bevormundung, Versklavung, Ausbeutung, an der er sich als leitender Staatsbeamter mitschuldig machte. Andererseits hoffte er, durch sein persönliches Mitwirken für eine Verbesserung der rechtlichen und Lebensumstände der Einheimischen sorgen zu können, z. B. durch Abschaffung der Sklaverei. Trotz der Kritik, die er entgegen dem herrschenden Zeitgeist äußerte, und trotz seiner insgesamt ambivalenten Haltung war er zu Kaisers Zeiten politisch und gesellschaftlich angesehen.
Seit der Jahrtausendwende wird die Benennung des Nachtigalplatzes diskutiert. In wenigen Tagen, am 19. April 2018, wird der Bezirksverordnetenversammlung von Mitte der Antrag zum Beschluss vorgelegt, dass der Platz nach Emily und Rudolf Duala Manga Bell benannt werden möge, was angesichts der Mehrheitsverhältnisse als wahrscheinlich gilt.
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Es bleibt zu hoffen, dass es nicht wieder bei einer bloßen Umbenennung bleibt, sondern diesmal die vielseitige Geschichte der deutschen Kolonisation für die Öffentlichkeit erlebbar gemacht und aufgearbeitet wird. Platz genug wäre dafür vorhanden auf dem zwar grünen, aber sinnlos leeren Nachtigal… ähm… Emily-und-Rudolf-Duala-Manga-Bell-Platz.